Antwort von Joschka Fischer

Wir müssen feststellen, dass es Abtreibungen gibt. Dieser Befund ist weder positiv noch negativ zu bewerten, es ist letztlich ein Befund gesellschaftlicher Realität. Deshalb stellt sich die Frage an die Politik, wie man mit diesem Befund umgeht. Dazu gibt es auch bei den Grünen heftige Debatten, die Mehrheit in unserer Partei sagt, dass bei der Entscheidung, Abtreibung oder nicht, die betroffene Frau das letzte Wort haben muss. Und wir unterstellen keiner Frau, dass sie leichtfertig diese existentielle Entscheidung trifft. Gleichzeitig sagen aber alle Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen, dass die gesellschaftlichen Strukturen so geändert werden müssen, dass so viele Frauen wie möglich sich dafür entscheiden, das Kind auszutragen. Dazu gehören etwa bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, eine bessere finanzielle Unterstützung durch den Staat, eine kinderfreundlichere Umgebung etc. Dass es heute 6,6 Millionen Kinder weniger gibt, als noch vor 30 Jahren kommt nicht von ungefähr. Die konservative Regierung unter Helmut Kohl hat in diesem Bereich wenig getan. Statt Kinder wurde die Ehe finanziell gestärkt, ein flächendeckendes System von ganztägiger Kinderbetreuung wurde nicht geschaffen, statt Spiel- und Bolzplätze wurden Straßen gebaut. Kinder sind mit Schilder „Rasen betreten verboten" oder durchgestrichenen Fußbällen, Fahrrädern etc. konfrontiert. Unsere Gesellschaft muss wieder lernen, dass Kinder keine jungen Erwachsene, sondern Kinder sind. Und Kinder machen Krach, machen Blödsinn, sie kosten Nerven, aber Kinderkrach ist unserer Meinung immer noch Zukunftsmusik. Kinder in die Welt zu setzen, wird in Deutschland nicht unbedingt leicht gemacht. Das wollen und werden wir ändern. Wir machen Politik auf Kindernasenhöhe. Mir ist wie vielen Konservativen der Schutz des ungeborenen Kindes sehr wichtig, aber gleichzeitig müssen auch Strukturen geschaffen werden, in denen sich Kinder wohl fühlen. Die Kohl-Regierung hat sich verbal gegen die Abtreibung ausgesprochen, mit ihrem Familienbild des 19. Jahrhunderts und ihre Verkennung der gesellschaftlichen Realitäten wie Auflösung der Ehe als gesellschaftlich wichtige Institution, zunehmende Frauenarbeit etc. haben sie aber auf der praktisch-politischen Seite nichts dafür unternommen, die Zahl der Abtreibungen zu senken. Wir haben ein anderes Frauenbild, ein anderes Familienbild und ein anderes Kinderbild. Für  uns ist Familie dort, wo Kinder sind, egal ob die Eltern mit oder ohne Trauschein leben, egal ob klassische Familie und egal, ob eine Familie aus Vater und Kinder oder Mutter und Kinder besteht. Wir äußern uns differenzierter zur Frage der Abtreibungen, wir machen aber eine Politik, die Frauen unterstützt, ihr noch ungeborenes Kind auszutragen.

Mit freundlichen Grüßen

Vera Bünte

dazu:
 
04.08.2002 Brief an Joschka Fischer

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Last update: 21. Februar 2003 16:47